Fallstudie von Torben Richter über Johann Sebastian Bach, der als einer der ersten Komponisten seine Vorstellung von Musik  vollbringt und sich von seinen Herren nicht sagen lässt, wie er die Orgel zu spielen hat

 

(In Bezug auf die Toccata und Fuge in D-Moll, BWV 565)

 

Einige Zusatzinformationen zu meiner Fallstudie:

 

Ich beziehe meine Fallstudie nicht unbedingt direkt auf den Übergang vom Barock zur Wiener Klassik, sondern eher auf meine Meinung, dass Bach anders als andere Komponisten seiner Zeit eher an seinem eigenen Schaffen interessiert war als daran, seinen Herren zu gefallen.

Bach schrieb die Toccata und Fuge in D-Moll vermutlich zu der Zeit, als er in Arnstadt als Organist der „Neuen Kirche“ und als Chorleiter des Chors des Lyzeums tätig war. Bach hatte des Öfteren Streit mit seinen Vorgesetzten, entweder weil er einen für vier Wochen genehmigten Urlaub ohne Erlaubnis auf drei Monate ausdehnte, weil er zu streng mit den Chormitgliedern war, oder, der für mich wichtigste Punkt, weil Bachs Orgelspiel aus Sicht des Konsistoriums für eine Choralbegleitung in einem Gottesdienst zu aufwendig und kompliziert war, er sollte einfacher spielen. In der von mir verfassten Geschichte weigert sich Bach jedoch sein Orgelspiel dem üblichen Geschmack anzupassen und vollzieht seine musikalische Vision, die ihm wichtiger ist als sein tägliches Brot. Dies ist meiner Meinung nach eine Vorstufe des Künstlerbegriffes, was Bach auch an seine Söhne weitergab, wie zum Beispiel an Johann Christian, der Mozart maßgeblich beeinflusste, oder Carl Phillip Emanuel, der dann als Künstler, vor allem als Künstler der Improvisation, und nicht mehr als Handwerker tätig war.

 

Fallstudie:

 

 

Ein Johann Sebastian Bach, Genie der Orgel, Kompositionskunst und des Cembalos, würde sich nicht sagen lassen, wie er einen Choral begleiten solle. Er hatte bei seinem, zugegeben, etwas überzogenen Urlaub bei Dietrich Buxtehude, den er eher als Studienreise sah,  einfach zu viel über die Kunst des Orgelns und des Komponierens gelernt, als dass er jetzt, wie jeder dahergelaufene Dorforganist, einen Choral einfach mit stupiden Akkorden begleiten würde. Das hatten sie doch auch schon vor ihm gemacht. Das hatte auch er selbst schon gemacht, um sich von anderen großen Komponisten etwas abzuschauen, da er sich das komponieren selbst beibrachte. Als 22-jähriger Mann strotze man doch nur vor Tatendrang, und er wollte endlich etwas Neues mit der Musik anstellen, etwas erschaffen! Nicht rezitieren und schon gewesenes wiederholen.

 

Johann Sebastian Bach saß in der Kutsche nach Mühlhausen, er sollte eine neue Orgel in der ansässigen Gemeinde prüfen. Für Bach trotz seines geringen Alters schon Routine, er war einer der gefragtesten Orgelprüfer, nicht nur wegen seines immensen Talentes als Organist, sondern auch weil er großes Fachwissen über die Beschaffenheit von Orgeln besaß. Woher wusste nur er selbst, er hatte derartiges jedenfalls nie erlernt. Ebenso wenig wie das Komponieren. Jedoch schien seine Reise zu Buxtehude da einiges beigetragen zu haben. Draussen stürmte es sehr, immer wieder wurden die Kutschentüren vom Wind aufgeschlagen. Es war ein ungewöhnliches Wetter für einen 24. April. Doch in ihm stürmte es noch mehr. Er wollte endlich weg aus der einschränkenden Arnstadt, seine Sache durchziehen, nicht spielen, was man ihm sagte. Die Kutsche hielt, Bach stieg aus. Die Bäume bogen sich, der Wind war wirklich bemerkenswert, es gewitterte, ein echtes Weltuntergangsszenario. Das bedrückte ihn nur noch mehr. Vor ihm lag nun die Kirche. An der Hauptpforte stand ein Geistlicher, Bach schätze, dass er ein Mitglied des Konsistoriums war. Als dieses stellte sich der Mann auch vor. Er öffnete die Pforte, Bach trat in die Kirche ein. „Lassen sie uns direkt zur Sache kommen. Die Orgelempore erreichen sie über diese Treppe. Die anderen Mitglieder des Konsistoriums und ich werden hier unten warten, die Orgel war wirklich sehr teuer, deswegen ist uns ihre Prüfung wichtig. Ich rufe die Balgtreter.“ Mit diesen Worten drehte der Geistliche sich um. „Komischer Kauz“, dachte Bach. Er schritt die Wendeltreppe zur Empore hinauf. Als er oben angekommen war, ging er langsam auf das Manual zu, bei jedem Schritt knarrten die Holzleisten unter seinen Füßen. Seine Laune war auch nicht gerade besser geworden. Selbst hier hörte man noch draussen den Wind heulen, Äste schlugen gegen die Kirchenfenster. Er setzte sich an die Orgel, strich mit der Hand über das frisch geölte Manual, betrachtete die blanken Pfeifen, zog probeweise an den Registern. Rein optisch war diese Orgel zum verlieben. Nun kamen auch die beiden Balgtreter. Ohne sich vorzustellen gingen sie zu ihrem Blasebalg, fragten Bach ob er bereit sei, nach dessen Nicken fingen sie an die Orgel mit Luft zu versorgen. Johann Sebastian begann, einige Takte der Kantate „Herr Gott, dich loben wir“ zu spielen. Die Orgel klang fantastisch. Anders als sein Orgelspiel. Er war zu wütend um ein Loblied zu spielen, die wohlklingenden Harmonien der Kantate klangen lieblos auf das Griffbrett gehackt. Er sah, wie die Balgtreter sich augenzwinkernd über sein Spiel amüsierten. Das reichte. Er zog einige Register, bis ein voller, mächtiger Ton ertönte, der im Brustkorb der Anwesenden wummerte. Bach hörte auf, das D zu halten. Er jagte ein Motiv durch die neuen Pfeifen, was im Nachhinein betrachtet vor Zorn nur so strotzte. Es enthielt in weniger als einem Takt mehrere Seufzerfiguren, eine Katabasis und ein Interrogatio. Er spielte atemberaubend schnelle 64tel Noten, die Stimmung dieses Motivs drückte seine Stimmung perfekt aus. Er wiederholte es eine Oktave tiefer, dann noch eine Oktave tiefer. Sein Blick glitt nach unten, auf die Pedale. Mit großer Kraft trat er auf das D und hielt es einen Augenblick. Nun legte er über dieses D einen derart bösartig klingenden verminderten Akkord, wie ihn die anwesenden noch nicht gehört hatten. Er löste ihn jedoch gleich zu einem wunderbar vollen Akkord auf. Bach spielte sich immer mehr in einen tranceartigen Geisteszustand, er kannte nur noch sich und diese wunderbare Orgel. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit jagte er das Manual rauf und runter, wuchtete Harmonien durch die Pfeifen, die die ganze Kirche füllten, erzeugte Spannungen, die er teils ungewiss stehen ließ oder auch himmlisch auflöste. Nachdem er etwa 5 Minuten improvisierte, legte er nun nur noch volle Akkorde in die Luft, die sich immer weiter harmonisch verzahnten, bis er nach einigen Trugschlüssen in einem mächtig majestätischen Mollakkord endete. Die Balgtreter lagen schwitzend und keuchend auf ihren Balgen, sie hatten noch keinen Organisten erlebt der derart viel Luft benötigte. Johann Sebastian Bach schritt die Treppe zum Kirchenschiff hinunter und sah das Konsistorium auf sich zueilen. Alle schüttelten ihm aufgeregt die Hände. „Eine famose Orgel, ganz und gar famos!“, sagte er. Der unfreundliche Herr der ihm die Tür geöffnet hatte kam nach vorne und fragte ihn, wie viel er in Arnstadt verdiene. Verwundert antwortete er dem Mann. „50 Gulden, plus 30 für Kost und Logis, der Herr, warum, wenn ich fragen darf?“ „Guter Herr, euer Orgelspiel ist phänomenal! Wir zahlen euch 85 Gulden, plus Spesen und Nebeneinkünfte! Ihr könnt spielen was ihr wollt! Aber werdet unser neuer Organist!“ Dieses Angebot konnte er nicht ausschlagen. Als er wieder in Arnstadt war, kündigte er umgehend und zog nach Mühlhausen, wo er soviel verdiente, dass er bald eine Familie gründen konnte. Da Johann Sebastian ein sehr religiöser Mensch war, glaubte er sein Engagement in Mühlhausen als Gottesgeschenk. Als Erinnerung daran schrieb er seine Improvisation so gut er konnte nachträglich auf, ein Werk, das heute unter dem Namen „Toccata und Fuge in D-Moll“ das wohl berühmteste Orgelwerk der Kunstmusik ist.