Musikhochschule Köln
Köln, den 8.5.2008
Musikpädagogik
SS 2008
PS: Musikalische Umweltverschmutzung?
Leitung: Klaus Riedel
Thema des Referats: Erfahrungsbegriff
Referentin: Lisa Mohns
1.Was ist Erfahrung?
„Erfahrung“ können wir auffassen als von einer Person zum
individuellen (personalen) Handlungs- und Deutungshintergrund verarbeitete
Wahrnehmungen von Reizen, Situationen und Geschehnissen, an denen sie beteiligt
war.
-
„Erfahrung“ führt auf die Fortentwicklung der
Gesellschaft (und ihrer einzelnen Mitglieder) hin (nicht nur auf ihre
Reproduktion).
-
Die natürliche Mitgift von Kindern besteht in der
Kraft, aus der Erfahrung zu lernen, aus ihr etwas zurückzubehalten, was für die
Überwindung der Schwierigkeiten einer später eintretenden Sachlage verfügbar
ist.
-
„Erfahrung“ ist naturgemäß auf „Wachstum“ angelegt und
ist darin Leben. Menschliche Erfahrung zielt wesensmäßig auf die zunehmende
Erkenntnis der Beziehungen und Zusammenhänge von Handlungen und damit auf die
Kontrolle dieser Handlungen .
-> Wert einer
Erfahrung liegt in der größeren oder geringeren Erkenntnis der Beziehungen und
Zusammenhänge, zu der sie uns führt
-
Prinzip der „Kontinuität“ -> universelles Prinzip:
Niemand lebt
oder stirbt für sich alleine, so auch keine Erfahrung. Jede Erfahrung lebt fort
in weiteren Erfahrungen, unabhängig von Wunsch oder Absicht.
->
Erfahrungen kumulieren zu „gemachter Erfahrung“, zum „Erfahrungsschatz“.
Aus seiner
Erfahrung kann man nicht heraustreten (-> Erfahrungslernen gestaltet ein
Leben!)
2. Erfahrung und Erziehung
Nicht „Erfahrung an sich“ beinhaltet schon eine edukative
Relevanz.
-> es gibt unergiebige Erfahrungen: Jede Erfahrung ist
erziehlich negativ, wenn sie eine Hemmung oder Stockung im Prozess der
Erfahrung bewirkt.
Zwei Kriterien zur Gestaltung von Erziehungsprozessen:
a)
- Basis ist der kumulative Charakter von Erfahrungen,
- Vorstellung
von Erziehungsprozessen: „Erziehung als Wachstum“:
- Erfahrungen werden dann
edukativ sinnvoll, wenn sie, so wie sie über sich hinausweisen, zu einem auf
Öffnung angelegten Erfahrungskontinuum beitragen.
-> Es geht darum, dass eine Erfahrung Interesse erweckt, Initiative,
Wünsche und Ziele entstehen lässt, die genügend intensiv sind, um über künftige
tote Punkte hinwegzuführen.
- Vorstellung vom „Lernen des
Lernen“ wird präzisiert:
Es geht um die Herausbildung
einer Grundhaltung, die die Freude am Lernen als Motivationsgrund in sich
aufgenommen hat.
-> nicht jeder schulische Lehrinhalt
(der in der Lebenszukunft möglicherweise sinnvoll zu verwerten ist) genügt
diesem Kriterium
-> Nur Lernerfahrungen, die in
der Erfahrungsgegenwart vom Lernenden akzeptierte Motive einschließen und so
Initiativen/Wünsche/Ziele für ein weiteres Lernen entstehen lassen, sind für
die Zukunft fruchtbar.
„Die Bereitschaft vom Leben
selbst zu lernen und die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass alle im
Vorgang des Lebens lernen, ist das beste Ergebnis der Schularbeit.“
b)
Anzustreben ist das Eintreten einer (optimalen)
„Wechselwirkung“ zwischen dem erfahrenden Subjekt und dem objektiven
Erfahrungsgegenstand (Ausnahme: Selbsterfahrungsprozesse).
Erfahrung bedeutet also einen
Austauschprozess, in dem beide Pole sich verändern.
3. Probleme einer
ausreichenden Deutung von Erfahrungen
Die folgenden Aspekte benennen kategorial die Faktoren
(Einflüsse des Subjekts und der äußeren Situation, bzw. der Gesellschaft), die
die Deutung unserer Erfahrungen nicht nur fördern, sondern auch behindern
können.
a)
Erfahrung ist „Selbsterfahrung“
Die
selbsteinsichtige/introspektive Deutung der personalen Erfahrungsanteile, ihre
Deutung als Reflexe individuellen Lebens, endet prinzipiell nicht an den für
ein Individuum in einer bestimmten Situation gerade erreichbaren Differenzierungen.
-> Jede Erfahrung spiegelt als
personale Erfahrung die Kette vorausgegangener,zeitlich benachbarter und eine
bestimmte Erfahrung einfärbenden Erfahrungen.
-> Die volle Bedeutung einer
Erfahrung wird dem Erfahrenden erst in dem Maße erkennbar, wie er sie im
Gesamtzusammenhang bisheriger Lebensgeschichte und den in einem Situationsbezug
stehenden Erfahrungen begreift.
-> Gerade das Musikerleben
(individuelle Assoziationen, Gefühle etc.) ist ein treffendes Beispiel für die
personale Signifikanz von Erfahrungen.
„The activity of movement, sound
and light, we believe, is expressive, but what it expresses is determined by
each one of you.“ (John Cage)
b)
Erfahrung ist „gesellschaftliche Erfahrung“
-> Gesellschaft umgrenzt den
Spielraum, innerhalb dessen Erfahrungen möglich sind
-> 'meine Welt' begründet sich
nur über den Weg der Interaktion als soziale Wirklichkeit
-> Die volle Bedeutung einer
Erfahrung erschließt sich nur, soweit sie im Lichte einer Theorie von
Gesellschaft (oder Ausschnitte dieser) betrachtet wird.
c)
Erfahrung ist „immer schon gedeutete Erfahrung“
-> Der wahren Bedeutung einer
Erfahrung kommt man in dem Maße näher, in dem man die oft dominierende
„gemachte“ Erfahrung als Interpretations- und Deutungshintergrund in Rechnung
stellt und ihren subjektiven Charakter bewusst macht (selbst-reflexive und
erkenntniskritische Deutung von Erfahrungen im Bemühen um Objektivität und
Rationalität)
-> Eigene Erfahrungen können
präzisiert werden, indem sie in ihren Einschränkungen, Entfremdungen oder ihrem
Vermitteltsein kenntlich werden.
=> Die verschiedenen Deutungen von Erfahrungen müssen
sich wechselseitig ergänzen.
4. Subjektive und objektive Faktoren des
Erfahrungsprozesses
-
Der wirksame Austausch zwischen erfahrendem Subjekt und
Erfahrungsgegenstand ist an zwei Voraussetzungen geknüpft:
-> primärer Affekt der
sensiblen Zuwendung des Subjekts zum Erfahrungsgegenstand
-> „Offenheit“, mit der dieser
auf unsere Fragen „Antworten“ gibt
Wenn beides starr aufeinander
trifft, bleibt eine gegenseitige Bereicherung aus (beim interpersonalen
Austausch wie auch bei jenem mit „Sachen“)
-> Bsp.: Gedichtinterpretation
-
Dass beide Erfahrungspole in solcher auf Kommunikation
angelegter Weise auftreten, ist aber nicht selbstverständlich; oft treten sie
in Konventionalisierungen auf (z.B. Rollenvorschriften,
Wahrnehmungsgewohnheiten etc.), Umständen, die den Dialog immer schon verzerrt
und versperrt sein lassen.
a)
Subjektive Voraussetzungen des Erfahrungsprozesses:
Grundhaltung eines Subjekts, das
sich dem Erfahrungsgegenstand mit Sympathie und Empathie öffnet --> „Begegnung“
-> unser Erfahren beinhaltet
kaum noch die Begegnung
-> Einfluss auf die
Musikerfahrung, für die Schule zutreffend -> „konsumistisch“ ausgerichtete
Musikerfahrung
=> Eine derart
charakterisierte Form der Erfahrung ist aber Grundbedingung für jedes
dauerhafte und fruchtbare gegenstandsorientierte Lernen -> liebevolle
(neugierige) Zuwendung des erfahrenden Subjekts zum Erfahrungsobjekt
-> wo man sie nicht vorfindet
oder vorfindlich machen kann, steht der Erziehungsprozess vor großen
Schwierigkeiten
b)
Objektive Voraussetzungen des Austauschprozesses
„Erfahrung“:
-> häufig auch nicht optimal
angelegt
-> aber: die Außenseite von
Erfahrungsgegenständen entscheidet nicht über die Möglichkeit wirksamen Erfahrens
Sozialisationsfelder prägen zwar
kennzeichnend, sie müssen aber nicht „erziehlich negativ“ sein, d.h. in keinem
Fall muss es zu einer „Hemmung“ oder „Stockung“ im Prozess der Erfahrung
(Entwicklung) kommen. Die Binnenstruktur eben dieser ist wichtig (->
inwiefern sind Anknüpfungspunkte, Herausforderungen etc. enthalten).
Inwieweit ein Gegenstand dies
tut, bezeichnet den Grad seiner „Offenheit“.
-> Offenheit der
Situationsfaktoren ist eine wichtige Bedingung für die Fruchtbarkeit eines
Erfahrungsvorgangs
Um in der Position des Erziehers
die Erweiterung der Erfahrung (ohne Hemmung) zu begünstigen, müssen wir also
dafür sorgen, dass sich die Erziehungsumwelt den Schülern „offen darbietet“,
d.h. „Fragen“ aufnimmt und „Antworten“ gibt.
=> Erst die Schule, die sich
für das innere und äußere Handeln der Schüler „offen“ macht und ihn auf die
Fähigkeit der Entscheidung darüber zuführt, lässt den Erfahrungsprozess optimal
wirken. (-> Reformpädagogik)
5. Musikalische Erfahrung
Musikalische Erfahrung ist das akkumulierte Substrat der
Disposition Musikalität (lebensgeschichtlich gewachsener Hintergrund im Bezug
auf die Musikalität).
Musikalisches Verhalten ist als Funktion musikalischer
Erfahrung aufzufassen.
Musikalische Erfahrung hat gesellschaftlichen und individuellen
Charakter. Der erstere bedarf der Deutung, der zweite bedarf eines
Kommunikationsprozesses.
a)
Gesellschaftlicher Charakter musikalischer Erfahrung:
- Musikalische Erfahrung ist
Erfahrung mit Gesellschaft.
- Musik ist
Kristallisationsobjekt für die Bestimmung sozialer Positionen.
- Musik ist durch die
Produktionsmöglichkeiten etc. zur Ware geworden -> Musik ist Erwerbsquelle
und zielt auf Gewinn; sie ist käuflich und man sucht einen
Gebrauchswert/Befriedigung in ihr; Hörer wird zum Käufer (nicht zum Kenner)
- Interesse wird durch die
Präsentation der Musik nur selten auf diese selbst gelenkt
- Kanalisierung in klischeehafte
Wahrnehmungsmuster verhindert die flexible Neuorientierung (Erstaunen,
Neugier,...) und schützt vor der Mächtigkeit gewohnheitszersetzender Erfahrung
b)
Individueller Charakter musikalischer Erfahrung:
- personale, unverwechselbare
Erfahrungen
- diskret, sichere Auskunft über
die Erfahrung eines anderen Menschen können wir nicht erreichen
-> Der Umgang mit diskreter
individueller musikalischer Erfahrung muss als das bedeutsame Problem
musikalischer Erziehung – als ihre Schwierigkeit und ihre Aufgabe – erkannt
werden.
6. Grundfunktionen einer „erfahrungserschließenden
Musikerziehung“
-
Allgemeine Aufgabe musikalischer Erziehung ist, die
Defizite musikalischer Erfahrung, wie sie die Schüler in den Erziehungsprozess
mitbringen, zu verringern und zu korrigieren:
-> altersspezifisch-bedingte
Erfahrungseinschränkungen
-> durch individuelle
Sozialisation hervorgebrachte Erfahrungsverzeichnungen, -ausfälle
-> durch Kulturbetrieb
hervorgerufenen Schein, der die Sicht des Einzelnen auf eine gesellschaftliche
Musikwirklichkeit ablenkt
-
Erziehungsintention sollte nicht zu „facheng“ gesehen
werden
-> musikalische Erfahrung ist
in allgemeiner Erfahrung vermittelt, reflektiert deren spezifische Züge (z.B.
Konsumismus), ist ihre Folge und ihr Teil
Literarturangaben:
Nykrin, Rudolf: Erfahrungserschließende Musikerziehung,
Konzepte – Argumente – Bilder,
Reihe:
Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Band 4,
Regensburg
1978