Wolfgang Klafki
Kriterien einer guten Schule
1. Zum Stellenwert des Themas
Seit etwa 10 bis 15 Jahren gibt es in der anglo-amerikanischen und der in der bisherigen
Bundesrepublik Deutschland laufenden schulpädagogischen Diskussion von Praktikern und
Schulforschern einen Schwerpunkt, der wachsendes Interesse findet, nämlich die Frage nach
der "guten Schule". Die gleiche Frage wird auch unter dem Stichwort "Schulqualität" bzw.
"Qualität von Schule" erörtert. Nun ist das damit umrissene Thema keineswegs
umstürzend neu. Wer immer in der Geschichte des pädagogischen Denkens über
Schule nachgedacht oder praktisch an der Gestaltung von Schulen gearbeitet hat, der hatte dabei -
ausdrücklich oder unausdrücklich - mehr oder minder klare Vorstellungen dessen vor
Augen, was er oder sie für eine "gute Schule" hielt. Am deutlichsten wird das stets bei
Schulreformern, und so ist denn auch die Geschichte der Reformpädagogik unseres
Jahrhunderts, soweit sie sich auf Schule bezieht, eine Geschichte von Vorstellungen über
Bedingungen und Faktoren "guter Schulen". Insofern steht die heutige Diskussion um dieses Thema
in einer langen Tradition.
Welches aber sind die konkreten, aktuellen Impulse, die in den letzten ein bis anderthalb Jahrzehnten
zur Wiederaufnahme und zu den besonderen Akzentsetzungen dieser Diskussion geführt
haben? Ich kann hier im wesentlichen nur aus der Perspektive der bisherigen Bundesrepublik
sprechen. Ich meine aber, daß das Thema im Kern auf ein internationales Problem zielt.
In unserer historischen Epoche, in der die einzelnen Kontinente, Staaten, Gesellschaften, Kulturen
immer mehr in einen weltweiten Zusammenhang wechselseitiger Abhängigkeiten und
Beziehungen verflochten werden, müssen auch die Kriterien, unter denen wir Schulen
beurteilen, in wachsendem Maße gemeinsame Kriterien sein, die allerdings zahlreiche
Konkretisierungen zulassen.
Soweit ich sehe, sind für die Diskussion in Deutschland vor allem zwei Gruppen von
Anstößen wirksam geworden:
Zum einen waren es Impulse aus der amerikanischen und englischen Schulforschung der
ausgehenden siebziger und der beginnenden achtziger Jahre. Breite, öffentliche Kritik an den
Leistungsmängeln vieler amerikanischer und englischer Schulen, insbesondere amerikanischer
Schulen in Großstädten und hier wiederum vor allem in mehr oder minder
ausgeprägten Slum-Bezirken führten zur Frage, von welchen Bedingungen es
abhängt, wenn Schulen "effective", also "wirkungsvoll", oder im Gegensatz dazu
"ineffective"
arbeiten. - Eines der übereinstimmenden Ergebnisse solcher Forschungen lautet
folgendermaßen: Schulen, die unter weitgehend gleichen oder ähnlichen
Rahmenbedingungen arbeiten, also dem gleichen Schultyp zugehören, eine sozial und von den
familiären Sozialisations- und Erziehungsvoraussetzungen her ähnlich
zusammengesetzte Schülerschaft, ein vergleichbares kommunales Umfeld sowie ähnliche
räumliche und sächliche Ausstattungen aufweisen, waren trotzdem sehr unterschiedlich
"effective" oder "ineffective". Die Unterschiede können folglich nicht auf die
äußeren, die Rahmenbedingungen, also auch nicht direkt etwa auf die
Schulorganisationsform zurückgeführt werden, es muß vielmehr schulinterne
Gründe geben, Unterschiede darin, was vor allem die Lehrer aus der jeweiligen Schule
machen.
Für etliche der amerikanischen und auch manche der englischen Untersuchungen ist es
allerdings charakteristisch, daß sie letztlich recht "schlichte" Erfolgskriterien für die
Beurteilung zugrundelegen, worin denn nun die Qualität einer guten Schule besteht.
Insbesondere bei manchen Untersuchungen über Primary bzw. Elementary Schools ist es der
Leitgesichtspunkt, wie weit die Schüler in der Schule die Beherrschung der sogenannten basic
skills erlernt haben - frei übersetzt: die elementaren Kulturtechniken des Lesens, Schreibens
und grundlegenden Rechnens. Bei den Untersuchungen über High Schools ist es nicht selten
die durch Tests abprüfbare Aneignung traditioneller Unterrichtsinhalte, insbesondere von
Kenntnissen, genormten Lösungsverfahren und Techniken.
Wenn nun deutsche Untersuchungen und Diskussionen zur Frage nach der "guten Schule" jenen
anglo-amerikanischen Ansätzen Anregungen entnehmen, so geschah das meistens im
Bewußtsein der eben angedeuteten Begrenzungen des Fragehorizonts.
Über die Anstöße durch anglo-amerikanische Forschungen hinaus ist für die
Forschungs- und Diskussionsentwicklung über Erscheinungsformen und Bedingungen "guter
Schulen" noch ein weiterer Impuls wirksam geworden; er hängt mit dem Verlauf und dem
schnellen Abklingen der Bildungsreformphase in der Bundesrepublik seit der Mitte der 70er Jahre
zusammen.
Der ursprünglichen Absicht nach war die Bildungsreformbewegung der ausgehenden sechziger
und der beginnenden siebziger Jahre in der Bundesrepublik auf äußere und innere
Schulreform gerichtet. Tatsächlich hat jedoch in vielen der durch die Reform neu
geschaffenen oder durch sie veränderten Schulen - nicht zuletzt auch in vielen Gesamtschulen -
der Faktor äußerer, organisatorischer Veränderungen das Übergewicht
gewonnen, und das öffentliche Interesse, nicht zuletzt die Kritik an der
Bildungsreformbewegung bzw. an wichtigen ihrer Elemente hat diese Tendenz verstärkt.
Dieser Tatbestand hat dann auch in erheblichem Maße die Schulforschung bestimmt. Ich meine
damit vor allem eine Reihe von Vergleichsuntersuchungen, die helfen sollten, die schulpolitische
Streitfrage zu entscheiden: Sind integrierende Schulformen, ist besonders die sogenannte "Integrierte
Gesamtschule" (analog zur anglo-amerikanischen Comprehensive School) "besser", "erfolgreicher"
als das herkömmliche dreigliedrige System der allgemeinbildenden Schulen in Deutschland mit
der frühen Trennung von Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen nach dem 4.
Schuljahr?
Für unseren Zusammenhang ist nun folgender Sachverhalt entscheidend: Jene deutschen
Untersuchungen führten unter anderem zu einem Hauptbefund, den die Schulforscher nicht
erwartet hatten; dieser Befund entspricht einem der vorher genannten Resultate anglo-amerikanischer
Schulforschung. Auf seinen Kern konzentriert, kann man ihn so formulieren: Die Unterschiedlichkeit
einzelner Schulen ist im Hinblick auf kognitive Leistungen, soziales Lernen, Schulzufriedenheit und
einige andere Dimensionen innerhalb jedes Schultyps größer als es jene Unterschiede
sind, die sich beim Vergleich der durchschnittlichen Resultate der Schulen verschiedener
Schultypen ergeben. Das gilt vor allem auch beim Vergleich zwischen Gesamtschulen einerseits und
Schulen des dreigliedrigen Schulsystems andererseits. Einer der maßgeblichen Schulforscher
der bisherigen Bundesrepublik, Helmut Fend, hat dieses Ergebnis als die Entdeckung bzw. die
Wiederentdeckung "der einzelnen Schule als pädagogischer
Handlungseinheit" bezeichnet M.
a. W.: Das Kollegium einer Schule kann im Zusammenwirken mit Schülern und Eltern
pädagogisch Erhebliches bewirken, kann die eigene Schule zu einer "guten Schule" gestalten,
"gut" nach dem überwiegenden Urteil der betroffenen Schulleiterinnen und Schulleiter, der
Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und der Schüler sowie nach dem Urteil von
Forschern.
Im folgenden Abschnitt will ich dieses generelle Ergebnis anglo-amerikanischer und jüngerer
deutscher Schulforschung genauer aufschlüsseln.
2. Hauptergebnisse der bisherigen Forschung über
Schulqualität
Ich fasse die nach meiner Einschätzung wichtigsten Teilergebnisse zentraler Untersuchungen
zur Frage der Schulqualität zusammen. Zunächst muß ich jedoch drei
Vorbemerkungen zur methodischen Anlage der Untersuchungen machen.
2.1. Vorbemerkungen zur Methodik der bisherigen
Schulqualitätsforschung
1. Die erste Vorbemerkung bezieht sich auf die Frage der Untersuchungsmethoden. An dieser Stelle
muß ich Sie bitten, eine starke Verkürzung in Kauf zu nehmen; es ist hier nicht
möglich, genauer auf diese Frage einzugehen. Ich beschränke mich darauf mitzuteilen,
daß man in den einschlägigen Untersuchungen auf drei methodische Grundtypen
stößt:
- zum einen auf Befragungsstudien an einer größeren Zahl von Schulen des
gleichen Schultyps oder verschiedener Schultypen, wobei z. T. nur Lehrer und Schulleiter, z. T.
auch Schüler und Eltern nach ihrem Urteil über ein mehr oder minder großes
Spektrum von Schulfaktoren befragt wurden unter dem Leitgesichtspunkt, ob sie "ihre" Schule
eher als "gute" oder eher als "schlechte Schule" einschätzten;
- zum zweiten Typus gehören Fallstudien über einzelne oder - vergleichend -
über eine kleine Anzahl von Schulen, deren Lehrer und Schulleiter, z. T. auch deren
Schüler interviewt wurden;
- dem dritten Typus sind solche Arbeiten zuzuordnen, die sich auf Schul- und
Unterrichtsbeobachtungen durch Schulforscher stützten.
Zum Teil sind zwei oder alle drei dieser Methodenansätze miteinander kombiniert
worden.
Ich gehe im folgenden davon aus, daß die auf diesen unterschiedlichen Wegen gewonnenen
Resultate in hinreichendem Grade miteinander vergleichbar sind, sich wechselseitig ergänzen
oder stützen, sofern man dabei genügend vorsichtig interpretiert und sich insgesamt der
Vorläufigkeit des bisher erreichten Forschungsstandes bewußt bleibt.
2. Die Schulen, die in den hier berücksichtigten Untersuchungen erforscht wurden, sind
insgesamt Normalschulen, vorwiegend in staatlicher Trägerschaft, jedenfalls keine
Versuchsschulen, die unter Sonderbedingungen arbeiten.
3. Es ist ein wichtiges Charakteristikum der hier vor allem berücksichtigten Studien, daß
es ihnen nicht um den vorgreifenden Entwurf einer idealen Schule, wie sie sein sollte, geht,
sondern um die Klärung von Qualitätsunterschieden, die sich in der heute vorfindlichen
"normalen" Schulwirklichkeit bzw. in ihrer Einschätzung durch die unmittelbar Betroffenen
bereits zeigen.
2.2. Untersuchungsergebnisse im Überblick
Die Hauptresultate lassen sich in acht Faktorengruppen zusammenfassen, ohne daß diese
Gruppen immer trennscharf gegeneinander abgegrenzt werden können. - Ich werde im
folgenden immer nur von den beiden Extrempolen sprechen, nämlich von den als "gut"
eingeschätzten Schulen im Kontrast zu den als "schlecht" eingeschätzten Schulen. Die
Mehrzahl der untersuchten Schulen liegt erwartungsgemäß irgendwo zwischen diesen
Polen. Diesen Sachverhalt brauche ich im folgenden aber nicht ständig ausdrücklich in
Erinnerung zu rufen.
2.2.1. Pädagogische Einstellung des Kollegiums einer
Schule bzw. der Mehrheit eines Kollegiums
Dieser Faktorengruppe kommt offenbar eine besondere Bedeutung zu. Sie scheint grundlegend
für alle oder viele der später zu nennenden Faktorengruppen zu sein: Ob eine Schule als
"gut" eingeschätzt wird, hängt in besonderem Maße davon ab, ob ein Kollegium
eine vorwiegend positive Einstellung zu Kindern und Jugendlichen hat. Diese Einstellung
drückt sich insbesondere in folgenden Formen aus:
- Die Lehrer haben eher optimistische Erwartungen hinsichtlich der
Fähigkeiten und des schulischen Weiterkommens sowie der
vermutlichen späteren persönlichen und beruflichen
Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler, anders formuliert: sie
nehmen ihre Schüler ernst, in ihren Stärken und Interessen, aber auch in ihren
Schwierigkeiten. Lehrerinnen und Lehrer "guter Schulen" wissen sich für die schulische
Entwicklung ihrer Schüler in hohem Maße verantwortlich. Schwierigkeiten, geringe
Erfolge oder Mißerfolge ihrer Schüler werden nicht resignativ als unüberwindbar
angesehen, mit negativen außerschulischen Sozialisations- und Erziehungsbedingungen
begründet bzw. als Folge von Intelligenz- oder Charaktermängeln der Schüler
erklärt, die die Schule angeblich nicht zu beheben vermag.
- Lehrer trauen ihren Schülern etwas zu, sie konfrontieren sie durchaus mit
Erwartungen und Anforderungen, dies aber nicht in Formen psychischen Drucks, durch direkte oder
indirekte Androhung von Sanktionen, sondern so, daß Schüler solche Anforderungen
und Erwartungen mindestens in der Mehrzahl der Fälle als begründeten Anspruch, als
Förderungsmöglichkeiten ihrer eigenen Entwicklung erfahren können.
- Lehrer guter Schulen richten ihr Augenmerk in mindestens gleichem
Umfang auf die leistungsstärkeren wie auch auf die
leistungsschwächeren Schüler, und sie versuchen, die Förderung
der Schwächeren möglichst zu einem Anliegen aller Schüler der betreffenden
Lerngruppe werden zu lassen, etwa im Sinne des Mottos: Wir alle sind in dieser Gruppe dafür
mitverantwortlich, daß alle mindestens einen Grundbestand an Lernzielen erreichen.
- Lehrer guter Schulen sind - im Kontrast zu Lehrern "schlechter Schulen" - offen und eher
bereit zu persönlichen Gesprächen mit Schülern. Das
können Gespräche sein, in denen Lehrer Anteilnahme an positiven persönlichen
Entwicklungen der Jugendlichen bekunden, aber auch Gespräche über Schwierigkeiten
von Schülern.
- Lehrer "guter Schulen" sind mehrheitlich - in der Konsequenz der vorher genannten
Einstellungsfaktoren - bereit, ihre eigene Arbeit immer wieder
selbstkritisch zu prüfen und sie mit anderen zu
erörtern.
2.2.2. Der Grad an Zielübereinstimmung in einem
Lehrerkollegium und der Grad an Kooperation.
Hier sind zwei Teilergebnisse hervorzuheben:
- In Schulen, die als "gut" eingeschätzt werden, besteht bei allen oder der Mehrzahl der
Kolleginnen und Kollegen einschließlich der Schulleiterin bzw. des Schulleiters
weitgehende oder hinreichende Übereinstimmung hinsichtlich
grundlegender Zielsetzungen einer Schule und hinsichtlich der Bedingungen, unter
denen es aussichtsreich erscheint, sich solchen Zielen annähern zu können. Genauer
formuliert muß man sagen: Es wird im Kollegium relativ kontinuierlich daran gearbeitet,
solchen Konsens immer wieder argumentativ zu erreichen, und d. h. zugleich: die Zielsetzungen der
Schule und die Inhalte und Formen ihrer Verwirklichung gemeinsam weiterzuentwickeln.
Eher schlecht eingeschätzte Schulen sind dagegen häufig durch tiefgehende
Auffassungsunterschiede hinsichtlich der Zielsetzungen und der Realisierungsbedingungen
gekennzeichnet. Das gilt - um einfache Beispiele zu wählen - etwa hinsichtlich der Bedeutung
bestimmter Regeln für Schulleben und Unterricht, die als verbindlich gelten sollen, hinsichtlich
der Hausaufgabenpraxis usf.
- Der eben genannte Gesichtspunkt der hohen oder doch hinreichenden Zielübereinstimmung
- im Gegensatz zum Zieldissens - führt unmittelbar weiter zu einem eng damit
zusammenhängenden Teilfaktor: "Gute Schulen" weisen meistens einen
ausgeprägten Grad von Kommunikation und Kooperation im
Gesamtkollegium und in Teilgruppen auf, und das Gegenteil ist fast durchgehend eines
der Charakteristika "schlechter Schulen". Dabei spielen zum einen formell geregelte Kommunikation
und Kooperation - vor allem in Gesamt- oder Teilkonferenzen (z. B. Fachgruppenkonferenzen) - und
zum anderen informelle Kommunikations- und Kooperationsformen eine Rolle.
2.2.3. Schulinterne Lehrerfortbildung
Wo Schulen von den Beteiligten als "gut" beurteilt werden, haben sich meistens - in
größerem oder geringerem Ausmaß - systematische Formen der Fortbildung des
Kollegiums herausgebildet, sei es als Bestandteil regelmäßiger Konferenzen, sei es in der
Form von "Pädagogischen Tagen" der betreffenden Schule bzw. des Kollegiums o. ä.
Dabei zeichnen sich zwei Bedingungen als wesentlich ab, und diese Erkenntnisse stimmen mit
Einsichten über fruchtbare Formen von Lehrerfortbildung überein, die in anderen
Zusammenhängen gewonnen worden sind:
Erstens: Die schulinterne Fortbildung eines Kollegiums, die natürlich
gemeinsame Veranstaltungen mit Kollegien anderer Schulen nicht ausschließt, muß
ein hinreichendes Maß an Regelmäßigkeit haben und
allen oder der Mehrzahl der Beteiligten die Erfahrung eines individuellen und kollegialen Fortschritts
ermöglichen. Es muß also Kontinuität der Arbeit an bestimmten
pädagogischen Problemen gewährleistet sein, sei es nun z. B. die
Disziplinfrage im Unterricht oder die Hausaufgabenpraxis oder die Klärung und
Verwirklichung übergreifender Prinzipien wie etwa der Entwicklung der Fähigkeit der
Schüler zur Selbststeuerung ihrer Lernprozesse usf.
Zweitens: Inhaltliches Zentrum einer solchen Fortbildung müssen die konkreten
Probleme dieser Schule, dieses Kollegiums sein, wenn sie von den Lehrerinnen
und Lehrern als hilfreich für ihre Alltagsarbeit erfahren werden sollen.
2.2.4. Schulleben
"Gute Schulen" sind nach den Resultaten der bisherigen Forschung nicht nur "gute
Unterrichtsanstalten", sondern es gibt in ihnen über den Unterricht hinaus ein mehr oder
minder großes Repertoire von besonderen Erfahrungs- und
Handlungselementen, die von den Betroffenen - den Schülern, den Lehrern, den Eltern,
ggf. auch von der an der Schule interessierten Öffentlichkeit - als bedeutsam wahrgenommen
werden: Schulfeste, außercurriculare Wahlangebote sportlicher, künstlerischer,
technisch-gestaltender, wissenschaftlicher Art, Spielangebote, freie
Kommunikationsmöglichkeiten im Schulgelände, Schulzeitungen,
außerunterrichtliche Projekte, lebendige und ggf. veränderbare Schultraditionen usw.,
also das, was wir in der deutschen Pädagogik im Begriff des "Schullebens"
zusammenfassen. Hier - wie hinsichtlich anderer, bereits genannter oder noch zu nennender Faktoren
- leuchtet unmittelbar der Zusammenhang mit dem unter 2.1. genannten Faktorenkomplex ein: Ohne
ein erhebliches Maß von pädagogischem Engagement eines Kollegiums, ohne das
Interesse von Lehrerinnen und Lehrern an kindlicher und jugendlicher
Persönlichkeitsentwicklung auch über die Dimension des Unterrichts hinaus, ohne
Freude an der Freisetzung jugendlicher Aktivitäten kann eine Schule keine Elemente des
"Schullebens" entwickeln. Und wo Schüler sich mit ihrer Schule identifizieren und eben diese
Identifikation selbst als zentralen Faktor ihrer Einschätzung einer Schule als "guter Schule"
bekunden, da hat in vielen, wenn nicht in allen Fällen die Erfahrung des Schullebens an der
betreffenden Schule einen wesentlichen Anteil daran.
2.2.5 Qualität des Unterrichts
Zunächst ist noch einmal an einen Sachverhalt zu erinnern, der bereits an früherer Stelle
benannt wurde: Es ist ein wichtiges Charakteristikum der in diesem Beitrag vor allem
berücksichtigten Studien, daß es ihnen nicht, jedenfalls nicht primär um den
vorgreifenden Entwurf einer "idealen Schule", deren Bedingungen größtenteils erst
geschaffen werden müßten, geht, sondern um die Klärung von
Qualitätsunterschieden, die sich in der heute vorfindlichen Schulwirklichkeit bzw. in ihrer
Einschätzung durch die unmittelbar Betroffenen bereits zeigen. Es sollen also in der gegebenen
Schulwirklichkeit Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Verbesserung aufgewiesen
werden.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es verständlich, daß die bisherige Forschung hinsichtlich
des Unterrichts nur wenige Unterscheidungskriterien von "guten" und "schlechten" Schulen
hervorhebt.
Bisher sind fünf Teilfaktoren identifiziert worden:
- Der erste Faktor ist die Schülerorientierung. Damit ist gemeint, daß
Unterricht in guten Schulen eher auf Förderung als auf Auslese ausgerichtet ist, anders
formuliert: auf die Bemühung, möglichst jedem Schüler entsprechend seinem
jeweils erreichten Lernstand weiterführende Erfolgserfahrungen zu vermitteln.
Dazu gehört ein weiterer, spezieller Faktor, nämlich
- das Prinzip häufiger Rückmeldung. In unserem Zusammenhang
bedeutet das: In vielen guten Schulen erhält jeder Schüler deutlich häufiger als
seine Altersgenossen in den "schlechten Schulen" Rückmeldungen über seine
Lernprozesse, und zwar entweder im Sinne vorwiegend positiver, anerkennender
Rückmeldungen oder solcher, die ihm zeigen, wie er Schwierigkeiten und Mängel
"abarbeiten" kann.
- Ein dritter Teilfaktor betrifft den Lehrer, nämlich seinen Überblick
über das Unterrichtsgeschehen. Lehrer, die "guten Unterricht" geben, zeigen
durchschnittlich einen deutlich höheren Grad an Überblick über das, was sich in
ihrem Unterricht abspielt, im Vergleich zu Lehrern, deren Unterricht von ihnen selbst und/oder von
den betroffenen Schülern oder weiteren Bezugsgruppen wie etwa den Eltern als eher schlecht
beurteilt wird. Man kann den gemeinten Sachverhalt auch so formulieren: Die besser unterrichtenden
Lehrer nehmen differenzierter wahr, was sich in ihrem Unterricht abspielt, wo einzelne Schüler
oder Schülergruppen abschalten, nicht mitkommen, sich "ausklinken", wo also individuell oder
gruppenspezifisch besondere Zuwendung, Hilfen, ggf. kritische Hinweise, Appelle oder auch
Mahnungen am Platze sind, oder aber, wo andere Schüler oder Schülergruppen
unterfordert sind, wo also neue Impulse, Zusatzaufgaben o. ä. sinnvoll
erscheinen.
- Ein vierter Teilfaktor ist - eng mit den eben genannten zusammenhängend - die
Strukturierung des Unterrichts durch den Lehrer und, dadurch
ermöglicht, der Durchblick auf seiten der Schüler. Hier könnte
man nun, einmal mehr, einen ausführlichen didaktischen Exkurs einschalten. Es muß an
dieser Stelle jedoch genügen, einen einfachen, jedoch sehr oft vernachlässigten,
für guten Unterricht aber nachweislich mitbestimmenden Teilgesichtspunkt herauszuheben:
Zur guten Unterrichtsführung gehört, daß der Lehrer oder - in zunehmendem
Maße - auch die Schüler Zäsuren, Einschnitte im Unterrichtsverlauf setzen, um
deutlich zu machen, wo man im Unterrichtsprozeß gerade steht: Einen Moment bitte, wir
sollten uns noch einmal die Leitfragestellung unseres Gesprächs klarmachen! - Haben alle das
Argument von Andrea verstanden? - Wer faßt noch einmal zusammen, bis zu welchem Punkt
wir bisher gekommen sind? - Kannst Du, könnt Ihr erst noch einmal sagen, wo eigentlich Eure
Schwierigkeit liegt?
- Als fünfter, in der Dimension "Qualität des Unterrichts" differenzierender Faktor
läßt sich die unterschiedliche Nutzung der Unterrichtszeit
identifizieren.
Was ist gemeint? Nun, ein scheinbar banaler Sachverhalt: In guten Schulen wird deutlich mehr der
für den Unterricht zur Verfügung stehenden Zeit wirklich unterrichtlich verwendet:
Unterricht fängt seltener verspätet an als in "schlechten Schulen", wird seltener
unterbrochen oder vorzeitig beendet, es fällt insgesamt weniger Unterrichtszeit aus,
Schüler fehlen seltener, es wird weniger "gegammelt" und "getrödelt" bzw. Zeit durch
die häufig wiederholte, aber dilettantische Inangriffnahme der immer gleichen organisatorischen Aufgaben vergeudet.
Der eben in seiner Bedeutung für "guten Unterricht" benannte Faktor der sinnvollen Nutzung
der Zeit ist eine Konkretisierung eines generellen, sechsten Bedingungsfaktors "guter Schulen", dem
ich mich im folgenden Unterabschnitt zuwende.
2.2.6. Lösungen organisatorischer Probleme auf der Ebene
der ganzen Schule
In guten Schulen werden die organisatorischen Probleme generell
zweckmäßiger, für alle Beteiligten befriedigender, mit geringerem Aufwand an
psychischer Energie, mit einem geringeren Maß an Störungen und Krisen
bewältigt als in eher schlecht beurteilten Schulen.
2.2.7. Die Funktion der Schulleiterin/des Schulleiters
Immer wieder zeigt sich in den einschlägigen Untersuchungen - auch das ist eine
Bestätigung eines verbreiteten Erfahrungsteils - die hohe Bedeutung der Leiterin bzw. des
Leiters einer Schule. Die Mehrzahl der Forschungsarbeiten ergibt nun, daß es vor allem sechs
Orientierungen und Fähigkeiten von Schulleitern sind, die bisher als fördernde
Teilfaktoren für die Entwicklung einer Schule zu einer "guten Schule" identifiziert werden
können:
- die Fähigkeit, die Ziele einer Schule zu vertreten bzw. zur
Konsensbildung des Kollegiums in dieser Hinsicht aktiv beizutragen sowie
für die Einhaltung getroffener Absprachen und beschlossener Orientierungen zu sorgen;
- die Fähigkeit, die Arbeit an der Verwirklichung des
pädagogischen Konzepts der betreffenden Schule in den
Mittelpunkt des Schulalltags und der Lehrerkooperation zu rücken;
das setzt voraus, daß die Schulleiterin/der Schulleiter
- in die Kommunikation und Kooperation des Kollegiums wirklich
eingebunden ist bzw. bleibt und dafür Zeit "herausorganisiert"; damit ist
- als vierte wünschenswerte Fähigkeit einer Schulleiterin bzw. eines Schulleiters ihre
bzw. seine organisatorische Kompetenz angesprochen, weiterhin aber
- die Fähigkeit und Bereitschaft, Kolleginnen und Kollegen zu
beraten, ihnen Freiräume für eigene pädagogische Initiativen zu
öffnen und diese Freiräume gegen Einschränkungsversuche von außen
soweit wie möglich abzuschirmen, schließlich
- die Bereitschaft und Fähigkeit, die eigene Schule in ihrem kommunalen
Umfeld zu verankern, sie nach außen zu öffnen, Verbindung zu anderen Schulen
herzustellen und die Zusammenarbeit mit den Eltern zu fördern, jedoch ohne die Schule zur
bloßen Erfüllungsinstanz von Elternwünschen und -meinungen zu machen.
2.2.8. Kooperation mit Eltern
Die meisten Untersuchungen zeigen, daß im Urteil von Lehrern, Eltern und Schülern,
man halte eine Schule eher für eine gute oder eher für eine schlechte Schule, die
Einschätzung der Kooperation von Schule und Elternhaus eine wichtige Rolle
spielt. Die Skala der Intensitätsgrade reicht hier von guter wechselseitiger Information
zwischen Eltern und Lehrern bis zur aktiven Mitbestimmung und Mitwirkung von Eltern an der
Gestaltung einer Schule.
3. Zielperspektiven einer humanen und demokratischen Schule
Bereits an früherer Stelle habe ich als Charakteristikum und Stärke der meisten
bisherigen Untersuchungen zur "guten Schule" hervorgehoben, daß sie in der gegebenen
Wirklichkeit von Normalschulen Unterschiede der pädagogischen Qualität ausfindig
machen und damit Möglichkeiten benennen, an denen Bemühungen zur Verbesserung
ansetzen können. Zweifellos wäre bereits viel gewonnen, wenn solche Impulse in der
Breite der Schulpraxis systematisch aufgegriffen würden.
Gleichwohl muß man auch die Grenzen dieses Ansatzes sehen: Selbst in den "guten"
Normalschulen konnten bislang nur Teilelemente jener wohlbegründeten pädagogischen
Zielvorstellungen verwirklicht werden, die im Zuge der Bildungsreformbewegung vor und nach 1970
und in der seither erfolgten kritischen Klärung und Weiterentwicklung herausgearbeitet und in
einigen Versuchs- und Modellschulen mindestens ansatzweise erprobt worden sind. So wichtig jene
Gütekriterien also auch sind, die man an "guten" Normalschulen heute schon sozusagen
empirisch ablesen kann, sie müssen m. E. doch auch auf weiterreichende, theoretisch
begründete Zukunftsperspektiven unserer Schulen und der Entwicklung des
gesamten Schulwesens bezogen werden, vor allem auf inhaltliche Kriterien. In diesem Sinne
formuliere ich im folgenden neun Thesen zur Humanisierung und Demokratisierung der
Schule.
- Eine demokratische und humane Schule, die ihrer Verantwortung gegenüber der
nachwachsenden Generation gerecht wurden kann, ist eine Einrichtung, die bei Lehrern und
Schülern das Bewußtsein der Spannung und der Diskrepanzen
zwischen Verfassungstext und Verfassungsrealität, zwischen
dem programmatischen Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaft
und ihrer Wirklichkeit weckt und lebendig hält. Die Lehrer einer solchen
Schule, die in der Lehrerbildung tätigen Personen, eine progressive, sich für die
Gestaltung der Praxis mitverantwortlich wissende Erziehungswissenschaft und - im Optimalfalle -
eine reformerisch eingestellte Schuladministration müssen sich daher ständig gegen
Versuche zur Wehr setzen, solche Diskrepanzen und Widersprüche zwischen Programm und
Wirklichkeit zu vergessen oder zu vertuschen. -
- Eine demokratische und humane Schule hat den Auftrag und muß daher entsprechende
Freiräume erhalten, ihren Schülern - in einem gestuften Gang wachsender
Anforderungen - Interessenunterschiede, Auffassungsdiskrepanzen und
Konflikte in der Gesellschaft bewußt zu machen und ihnen Grundlagen
für die Entwicklung der Fähigkeit zu vermitteln, allmählich ihren eigenen Standort
innerhalb verschiedener und z. T. kontroverser Positionen und Sinngebungen wirtschaftlicher,
sozialer, politischer, kultureller, religiöser Art zu bestimmen. Eine solche Schule ist also eine
Institution, die auf Kontroversen und Konflikte nicht nur notgedrungen reagiert, sondern aus
pädagogischer Verantwortung auf solche Spannungen aufmerksam macht und sich mit ihnen
offen auseinandersetzt.
- Eine solche Schule leitet junge Menschen um ihrer Zukunft willen auch dazu an,
Alternativen zum Bestehenden zu denken, sich also nicht auf das Vorfindliche
festschreiben zu lassen. Sie regt dazu an, produktive Fantasie zu entwickeln, d. h. kognitive
Fantasie hinsichtlich der Fragen, wie man die Diskrepanz zwischen dem programmatischen
Selbstverständnis der Gesellschaft und ihrer Wirklichkeit in Richtung auf mehr
Gerechtigkeit, stärkere Annäherung an das Prinzip der
"Chancengleichheit", mehr Humanität, mehr zwischenmenschliche
Solidarität, mehr Friedfertigkeit, mehr
Mitbestimmungsmöglichkeiten für alle, mehr Lebensqualität
verringern kann. Dabei soll sie mit ihren Schülern nicht nur die großen Fernziele ins
Auge fassen, sondern jeweils zugleich fragen: Was können wir hier und heute, unter unseren
jeweiligen Bedingungen dazu tun, um auf dem langen Weg zu den großen Zielen ein kleines
Stück voranzukommen? Schule soll also auch helfen, bei den Schülerinnen und
Schülern die Geduld und die Freude an den kleinen Schritten im Blick auf die großen
Perspektiven zu entwickeln.
- Eine demokratische und humane Schule leitet nicht nur dazu an, neue politische,
ökonomische, soziale, berufliche, lebensweltliche Konzepte zu verstehen und ggf. kreativ in
der Vorstellung zu entwerfen. Sie muß sich auch darum bemühen, den
Schülern und den Lehrern in der Schule selbst neue, positive
Erfahrungen zu ermöglichen, gleichsam als zu erprobende Modelle, wie sich die
Gesellschaft im Sinne ihrer eigenen Programmatik weiterentwickeln könnte. In der Schule
müßten also z. B. Formen angstfreien Lernens, Modelle solidarischer Hilfe im
Lernprozeß, konkurrenzfreier Kooperation, Formen einer unterstützenden, nicht
auslesenden Leistungsbeurteilung und Rückmeldung, Modelle rationaler Konfliktlösung,
gelingender Mitbestimmung (einschließlich kollegialer Schulleitung) erprobt werden.
- Die mir notwendig erscheinende Schule muß eine polare Spannung für Lehr- und
Lernprozesse fruchtbar zu machen versuchen: Sie muß der außerschulischen
Wirklichkeit nahebleiben - das ist der eine Pol. Sie muß zugleich lehren,
zu jener außerschulischen Wirklichkeit immer wieder
kritische Distanz zu gewinnen; das ist der andere Pol. Das bedeutet auf dem Pol
"Bezug zur außerschulischen Wirklichkeit" dreierlei: Schule muß zum einen die
außerschulische Erfahrungswirklichkeit der jungen Menschen und ihre im
außerschulischen Raum wirksamen Interessen in der Schule ernst nehmen, sie zur Sprache
kommen lassen; sie muß zum anderen das außerschulische Leben gezielt in die Schule
hereinholen - in der Gestalt von Experten, Eltern, Dokumenten jener außerschulischen
Erfahrungsrealität usw.; und sie muß zum dritten die Realität immer wieder
außerhalb der Schule aufsuchen, in der Form von Befragungen, Besichtigungen, Erkundungen,
Praktika usw. - Auf der anderen Seite gilt: Schule muß - polar auf die eben betonte Erfahrungs-
und Wirklichkeitsnähe bezogen - immer wieder kritischen Abstand zur außerschulischen
Erfahrung gewinnen, um sie analysieren, ihre Hintergründe erfragen und erkunden zu
können und sie auf ihre besseren Möglichkeiten hin zu prüfen und fantasievoll
weiterzudenken.
- Demokratisch und human ist eine Schule, die die Tatsache, daß sie Schüler mit sehr
unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen aufnimmt - und das bedeutet: mit sehr unterschiedlichen
Ausgangsbedingungen für das schulische Lernen - nicht durch formale Gleichbehandlung
ignoriert, sondern darauf bewußt und gezielt antwortet, nämlich einerseits
individualisierend, andererseits kompensatorisch. Es ist eine Schule, die den Mut hat und schrittweise
mehr Möglichkeiten entwickelt, gerade den schwächeren,
benachteiligten, schwierigen Schülern besonders zu helfen, und
zwar so, daß die Schule im ganzen und nicht zuletzt die Schüler, die
günstigere Ausgangsbedingungen mitbringen, sich eine solche Zielsetzung zu eigen machen
und aktiv an ihr mitwirken im Sinne praktischer Solidarität - z. B. in der Form intensiver
Kleingruppenarbeit, einer Kultur des Helfens und der Patenschaften zwischen Schülern, durch
innere Differenzierung des Unterrichts, durch gezielte Anregungs-. und Förderungsangebote.
Gerade dadurch würde eine solche Schule anspruchsvoller als die herkömmliche
Schule werden; sie würde auch an die leistungsfähigeren Schüler höhere
Ansprüche stellen, als das in der bisherigen, durchschnittlichen Schule der Fall ist. Am Beispiel
verdeutlicht: Anderen im Lernprozeß so helfen zu können, daß diejenigen, denen
geholfen wird, verstehend lernen können, setzt nicht nur Einfühlungsgabe und
Hilfsbereitschaft voraus, sondern erfordert zugleich eine überdurchschnittlich hohe kognitive
Leistung der Helfenden.
- Human und demokratisch ist eine Schule, die den jungen Menschen als
ganzheitliches Wesen ernst nimmt, ihn in allen seinen Lebensdimensionen und
Möglichkeiten anzusprechen und zu fördern versucht: in seinen kognitiven - und d. h.
vor allem auch : reflexiven - Fähigkeiten, darüber hinaus seinen emotionalen,
motorischen, sozialen und praktischen Fähigkeiten. Es ist eine Schule, die diese verschiedenen
Aspekte durch ein reiches Angebot von unterrichtlichen und außerunterrichtlichen
Lernsituationen anspricht, und zwar so, daß sie dabei eine grundlegende Polarität
berücksichtigt: die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen unmittelbarer Beobachtung und
Erfahrung, praktischem Tun, Experimentieren, Erprobungen, Praktika auf der einen Seite und
denkender Verarbeitung, sprachlich-begrifflicher Reflexion und Abstraktion auf der anderen Seite -
bis hin zur Reflexion über Sinn- und Grenzfragen der individuellen und der gesellschaftlichen
Existenz des Menschen.
- Demokratisch und human ist eine Schule, deren unterrichtlichen Kern entdeckendes und
verstehendes, exemplarisches Lernen bildet; und zwar ein Lernen, das im engeren
Erfahrungskreis der Schüler jene Probleme, Konflikte, Ansätze aufspürt, von
denen aus sich schrittweise tiefere Einblicke in die großen nationalen und internationalen
Brennpunkte unserer gegenwärtigen und vermutlich zukünftigen Existenz
eröffnen können: Friedenssicherung und Kriegsgefahr, das Nord-Süd-
Gefälle und die Überwindung von Hunger und Elend in den Ländern der
sogenannten Dritten Welt; Umweltzerstörung und Umweltschutz angesichts eines weltweiten
Technisierungs- und Industrialisierungsprozesses; Weltenergieversorgung und sogenannte
Alternativenergien; Fundamentaldemokratisierung in allen Gesellschaften; Emanzipation der Frau;
die Vorurteilsproblematik und die gesellschaftlichen Minderheiten und Randgruppen; die Beziehung
zwischen den Generationen u. ä. [3]
- Demokratisch und human ist eine Schule, die sich selbst und die ihren Unterricht immer wieder
mit den Schülern zum Thema, zum Gegenstand der Analyse, der Kritik,
der Planung und Erprobung von Verbesserungsmöglichkeiten macht. Es ist eine Schule
permanenter Reform, in der es gerade dieser ständig gewährleisteten Offenheit wegen
nicht hektisch-aktivistisch zugeht, sondern - bei allem Aktiv-Sein - besonnen; in der stabile Formen
des Schulalltags, der "Lernkultur", der sozialen Beziehungen, des Schullebens und der
Außenkontakte aufgebaut und gleichwohl gegen Erstarrung und Ritualisierung abgesichert
werden, weil sie der Kritik und der Reflexion zugänglich bleiben. Eine solche Schule ist eine
selbstreflexive Schule.
4. Schlußbemerkung
Mir ist klar, daß solche Thesen überaus anspruchsvoll, ja utopisch klingen. Daß die
darin steckenden Forderungen in keiner Schule jemals optimal erreicht werden können, liegt
auf der Hand. Ich meine aber, daß es sich um begründete, und zwar international
gültige Orientierungsmaßstäbe handelt. Es sind die großen Ziele, auf die hin
im Alltag der Schulen viele kleine Schritte versucht werden müssen.
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